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“Groß-Peking” (1892) – Überlegungen zum Chinabild

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Für ihr Gschnas am 29. 2. 1892 gab die Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens das Motto “Groß-Peking” aus – das Künstlerhaus verwandelte sich in ‘chinesische’ Festräume, als Rahmen, um die Verhältnisse in Wien heiter und satirisch zu kommentieren. Dazu gab es eine Gedenkmedaille, ein Handbuch für Reisende, Beiträge in satirisch-humoristischen Periodika und in ‘normalen’ Tageszeitungen. Aus all dem lassen sich Schlüsse auf das Chinabild der 1890er ziehen: Was ist typisch für diese

“uralt[e] Cultur [...], die, ins Meer der Zeiten versunken, seit Jahrtausenden in seinen Tiefen regungslos stehen geblieben – ein großes Vineta?” [1]

Das Bild vom ‘stillstehenden’ China ist nicht so ungewöhnlich, der Vergleich mit der sagenhaften Stadt Vineta , die im Meer versank,[2] schon eher  – ob sich der Zusammenhang dem Publikum spontan erschloss?

Wackelpagode | Meißen

Wackelpagode | Meißen.
Quelle: Europeana
Creative Commons Lizenzvertrag

Folgt man den Berichten in den Tageszeitungen, dann gelten als ‘typisch chinesisch’:

  • Porzellan (in allen Formen)
  • Pagoden
  • Tempel
  • Gärten
  • aufwändig gemusterte Stoffe
  • Fächer
  • Zöpfe
  • Mandarine
  • Buddha und Konfuzius
  • Schriftzeichen

Man hatte konkrete Vorstellungen vom Aussehen der “im chinesischen Lattenzaunstyl aufgebaute[n] kleine Tempelchen”[3]. Abbildungen der Anlage gehören seit dem 17. Jahrhundert zum Standardprogramm der europäischen Chinaliteratur, den Anfang machten 1665 die Abbildung  “Porcellyne Tooren“  bei Johan Nieuhof.[4]. Weite Verbreitung fand die Ansicht der Porzellan-Pagode durch die Darstellung “Der berühmte Sinesische Tempel, nahe bey der Stadt Nanking …” (Tafel XII) im Entwurff einer historischen Architectur[5] des Johann Berhard Fischer von Erlach.  Dass der Turm so nicht mehr existierte, spielte keine Rolle, es war der chinesische Turm schlechthin …

Das ‘typische’ Porzellan war das seit der Ming-Zeit (1368-1644) populäre Blau-Weiß-Porzellan (chin.:  qīnghuā 青花 [wörtlich: blaue Blumen), die vermeintlich 'typischen' Motive waren Drachen und Fabeltiere. Aus dem Blau-Weiß-Dekor des frühen 15. Jahrhunderts entwickelte sich im 18. Jahrhundert das Zwiebelmuster der Manufaktur in Meißen.[6] – dass das nicht ‘original’ chinesisch war, war dem Publikum des späten 19. Jahrhunderts so selbstverständlich, dass die stilisierten Früchte und Blüten auch umgedeutet werden konnten:

Die weiße Porcelanfigur [sic!] Lueger’s hat das Zwiebel- und Knoblauchmuster des alten Meißnerstyls als Allegorie seiner antisemitischen Richtung [...][7]

Knoblauch und Zwiebel sind “Sekundärattribute, die in besonders subtiler Weise in Verbindung mit Darstellungen von Juden auftreten”[8] – beim Gschnas nun das Dekor für den Mantel des Antisemiten Lueger.

Während heute unter Pagode in der Regel ein Bauwerk verstanden wird, verstand man im späten 19. Jahrhundert vor allem im deutschsprachigen Raum darunter Porzellanfiguren – vor allem sitzende Figuren mit untergeschlagenen Beinen, sehr bunt bemalt. Manche dieser Figuren hatten bewegliche Teile (Kopf, Hände) und wurden als ‘Wackelpagoden’ bezeichnet.  Im Kontext des Künstlerhaus-Gschnas’ vermischen sich ‘Pagoden’ und sog. Dickbauchbuddhas (bùdái 布袋).[9]

Nicht fehlen darf bei den ‘typisch ‘ Elementen der Faltschirm, der in der Regel als “Sonnenschirm” bezeichnet wird. Gemeint sind Ölpapierschirme (yóuzhǐ sǎn 油紙傘), die sich seit der Ming-Zeit steigender Beliebtheit erfreuten und die im Westen als ‘typisch chinesisch’ interpretiert wurden.

Zusammenfassend lässt sich (vorerst) sagen, dass aus einem umfangreichen Fundus von tatsächlich und vermeintlich ‘typisch chinesischen’ und ‘echt chinesischen’ Elementen geschöpft wurde – die Grenzen erscheinen fließend.

BTW: ‘Gelb’ ist kein Thema… das wird im Kontext “Gross-Peking”nicht einmal am Rande erwähnt.

Teil 1: Ein ‘chinesisches’ Wien
Teil 2: Die Medaille zum Fest
Teil 3: “Seine Umgebung und Groß-Peking. Ein Handbuch für Reisende am 29. Februar 1892″
Teil 4: Ein Bilderbogen im “Floh”
Teil 5: Das Chinabild in “Groß-Peking”

  1. Wiener Zeitung Nr. 49 (1.3.1892) 3. Online → ANNO.
  2. Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch (Leipzig: G. Wigand 1853), 200: “Nr. 223. Vineta”.
  3. Localanzeiger der Presse (28.2.1892) und von “Buddha-Kapellen”.

    Die Tempel standen in chinesischen Gärten mit künstlichen Miniaturbergen, Teichen, Wasserfällen etc.  Mitunter fanden sich in den Gärten auch mit Glöckchen geschmückte Türme/Türmchen. Unter den Türmen ragt einer besonders heraus: der ‘Porzellanturm in/von Nanjing’. Gemeint ist damit die Nánjīng Táotǎ 南京陶塔, auch Dà bàoēn sì  大報恩寺 – eine buddhistische Pagode aus dem 15. Jahrhundert, die 1856 im Zuge des Taiping-Aufstandes weitgehend zerstört wurde. ((Eine Beschreibung des Zustands der Anlage in den 1840er Jahren enthält Granville G. Loch: The Closing Events of the Campaign in China: The Operations in the Yang-tze-kiang and Treaty of Nanking (London: J. Murray 1843)  180-182.

  4. Johann Nieuhof: Het gezantschap der Neêrlandtsche Oost-Indische Compagnie, aan den grooten Tartarischen Cham, den tegenwoordigen keizer van China : waar in de gedenkwaerdighste geschiedenissen, die onder het reizen door de Sineesche landtschappen, Quantung, Kiangsi, Nanking, Xantung en Peking, en aan het keizerlijke hof te Peking, sedert den jare 1655 tot 1657 zijn voorgevallen, op het bondigste verhandelt worden : befeffens een naukeurige Beschryving der Sineesche steden, dorpen, regeering, wetenschappen, hantwerken, zeden, godsdiensten, gebouwen, drachten, schepen, bergen, gewassen, dieren, &c. en oorlogen tegen de Tarters : verçiert men over de 150 afbeeltsels, na’t leven in Sina getekent (Amstedam: Jacob van Meurs 1665) – Digitalisate (auch spätere Ausgaben und Übersetzungen → Bibliotheca Sinica 2.0.
  5. Johann Bernhard Fischer von Erlach: Entwurff einer historischen Architectur, in Abbildung unterschiedener berühmten Gebäude, des Alterthums, und fremder Völcker, umb aus den Geschichtbüchern, Gedächtnüsz-Müntzen, Ruinen, und eingeholten wahrhafften Abriszen, vor Augen zu stellen … alles mit groszer Mühe gezeichnet und auf eigene Unkosten herausgegeben  (Wien 1721). Digitalisate (Ausgabe 1721, Ausgabe 1725 → Bibliotheca Sinica 2.0.
  6. Lutz Miedtank: Zwiebelmuster. Zur 300jährigen Geschichte des Dekors auf Porzellan, Fayence und Steingut. (Leipzig: Edition Leipzig, 3. Aufl. 2001.
  7. Local-Anzeiger der “Presse”, Beilage zu Nr. 49 (28.2.1892) 7. Online: ANNO.
  8. Michaela Haibl: Zerrbild als Stereotyp. Visuelle Darstellungen von Juden zwischen 1850 und 1900 (Reihe Dokumente, Texte, Materialien. Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, 26; Berlin: Metropol 2000) 257. Ebd. auch Beispiele (257-264).
  9. Zu Pagoden/Wackelpagoden und zu den designativen Attributen Zopf, Fächer, demnächst mehr.


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